"Nebenstrecke" und "Abstellgleis" als Privileg?

Erinnerungen an Ulmtal und "Balkanexpress" – von Peter Thiergen (1939)

Von 1953 bis 1964 habe ich im Ulmtal, genauer in Holzhausen/Kreis Wetzlar, gelebt. Bis zum Abitur 1960 war ich Schüler des Gymnasium Philippinum, danach Student der Philipps-Universität in Marburg (mit den Fächern Klassische Philologie und Slavistik). Das Ulmtal hatte drei parallel verlaufende Lebensadern: unten im Tal floss die sich schlängelnde Ulm, weiter oben verlief eine Dorf- bzw. Landstraße, und auf der Anhöhe war eine eingleisige Bahnstrecke angelegt, die (wenn man „nach unten“ fuhr) von Beilstein über Holzhausen, Ulm und Allendorf nach Stockhausen führte, wo man in die Züge der Lahnstrecke entweder Richtung Wetzlar oder Richtung Weilburg/Limburg umsteigen konnte. Buslinien oder Radwege gab es damals nicht.

Die Ulm war ein wenig reguliertes, liebliches Bächlein, konnte aber bei Hochwasser ganz schön rabiat werden. Sie floss infolge des Gefälles von Beilstein her relativ schnell, hatte klares trinkbares Wasser, war Lebensraum für Forellen und im Uferbereich für seltene Eisvögel und zahlreiche Nachtigallen, die klangvolle Konzerte gaben. Im nicht allzu tiefen Bachbett lagen rundgeschliffene Steine, die in kalten Wintern, zusammen mit übereinander geschobenen Eisplatten und eiszapfenverzierten Uferbüschen, ebenso bizarre wie formschöne ,Naturwunder' hervorbrachten. Als dann oberhalb von Holzhausen eine Talsperre errichtet wurde (ich arbeitete einen sonnenreichen September lang als „Hilfskraft“ bei den Geodäten), verlor die gezähmte Ulm den mir unvergesslichen Zauber eines „Wildwassers“. Diese etwas überhöhende Sicht hängt damit zusammen, dass ich aus den Ebenen der „Sächsischen Tieflandsbucht“ stammte, die bei Leipzig nicht einmal bescheidene Mittelgebirge kennt.

Das Ulmtal war für mich als Naturerlebnis eine Art Idylle. Ein überschaubarer Raum mit Bach, Wiesen, Feldern und Mischwald, entsprechender Tierwelt (man konnte sogar junge Füchse vor ihrem Bau beobachten), mit Beeren und Pilzen, im Herbst mit der Leuchtkraft sich verfärbender Blätter, im Winter mit Schneefülle und sanften Abhängen zum Rodeln. Über Jahre hin verging kaum ein freier Tag an dem ich nicht draußen „in Wald und Flur" war, mit Tagebuch und Vokabelheft des Griechischen und Lateinischen, versunken in eine Welt fast träumerischer Evasion. Eichendorff'sche Romantiken Miniatur. Ich übte mich sogar im Gedichteschreiben (was natürlich niemand wissen durfte). Die Vorstellung von „Idylle“ kam auch daher, dass ich zuvor Bombennächte in Leipzig und danach den Repressionsstaat der frühen „DDR" erlebt hatte. Den Wunsch nach Naturrefugium verspüre ich bis heute, verbunden mit einer Aversion gegen alles naturferne Großstädtische.

Aus dem Ulmtal heraus kam man im Sommer per pedes oder per Veloziped, seltener im Winter per Ski. Eigene „Antriebskraft“ war gefragt, nicht technisches Automobil. Man radelte (natürlich ohne Gangschaltung) zum Heisterberger Weiher oder zur Krombachtalsperre, zum Knoten oder zur Fuchskaute, zur Burg Greifenstein oder zur Dianaburg in deren Nähe es Wildschweine gab. Am Wochenende zu Dörfern, in denen die Holzhäuser Fußballmannschaft ihre A-Klassen-Spiele austrug. Bei Derbys war mit grobem Foulspiel und Randale zu rechnen. Von wegen Idylle. Unromantisch waren auch Kirmesschlägereien und die Umstände, dass neun Monate nach den Kirmesfesten, Kinderchen ohne Väter zur Welt kamen. Menschliches - allzu menschliches im Biotop. Schlimmer war der Todesfallenzustand nicht weniger Landstraßen, verbunden mit leichtsinniger Raserei. Regelmäßig zerrissen Schreckensmeldungen die „Ulmtal-Idylle“.

Zu den schönsten Erinnerungen an die Ulmtal-Zeit gehört für mich der sog. Balkanexpress. Das Wort war mir so erklärt worden: „Balkan“ verweise auf etwas Abgelegenes und Rückständiges. ,,Express“ sei die ironische Umkehrung zu ,,Bummelzug“. Außerdem stecke in dem Kompositum ein launiger Verweis auf dem luxuriösem „Orient-Express“ (der seit 1883 zwischen Paris und Konstantinopel verkehrte). Wie immer: „Balkanexpress“ war ein Kosename, kein Schandetikett. Das Wort benannte ein liebenswertes Relikt aus dem Dampfmaschinen-Zeitalter.

Erste Pläne zum Bau einer Ulmtalbahn hatte es seit Mitte des 19. Jahrhunderts gegeben. Anstoß waren wirtschaftliche Überlegungen: Transport von Eisenerz, Ton, Holz und Basalt, mit der Hoffnung auf Anschlüsse über den Hohen Westerwald hinaus bis ins Ruhrgebiet. Der Baubeginn erfolgte allerdings erst im 1. Weltkrieg unter Einsatz von Kriegsgefangenen (darunter sollen Russen gewesen sein, mit einer Sprache fremd wie der Balkan). Mitte 1924 war die Gleisverlegung von Stockhausen bis Beilstein abgeschlossen. Die Strecke hatte eine Länge von 15 km mit einem Höhenunterschied von etwa 250 Metern. Der Betrieb lief zunehmend auch als Personenverkehr über ein halbes Jahrhundert. 1976 wurde die Personenbeförderung, zehn Jahre später auch der Gütertransport eingestellt. Der „Balkan“ hatte selbst als „Abstellgleis“ ausgedient. Vom Abbau der Schwellen bewahre ich eine Reliquie auf: eine große Fixierschraube, mit der Schienenfuß und Schwelle verbunden wurden (ein Geschenk meines Sohnes Andreas). In den 1950er Jahren hatte es einige schwerere Unfälle gegeben, zum Beispiel am Straßenübergang bei Biskirchen, als der „Express“ mit einem Lastwagen kollidierte und die Dampflok die Böschung hinunterfiel. Erst danach wurde eine Warnblinkanlage installiert. Heute stehen entlang der ehemaligen Strecke einige Informationstafeln, die über die Geschichte des „Balkanexpress“ Auskunft geben. Bei Wildunfällen hielt der Lokführer meistens an, um das totgefahrene Reh mitzunehmen. Auch wenn er im Wald Pilze erblickte, konnte es zu einem improvisierten Zwischenstopp kommen. Der „Balkanexpress“ war eine Bahn im Kleinformat. Eine bescheidene Dampflok mit wenigen, eher spartanisch eingerichteten Waggons, die Holzbänke hatten, die nicht gerade behindertengerecht waren und älteren Menschen beim Ein- und Ausstieg Mühe bereiten konnten. Schaffner und Fahrgäste waren meistens dieselben. Man kannte sich, Fahrkartenkontrolle erfolgte eher sporadisch, Vandalismus oder Sprayer-Marotten waren lange unbekannt. Morgens ging für mich der Zug ab Holzhausen um ca. 6.45 Uhr, nachmittags war ich gegen 16.00 Uhr wieder zuhause. Danach standen die Hausaufgaben an (sofern sie nicht schon im „Balkan“ erledigt worden waren). In Schul- und Arbeitswelt herrschte die 6-Tage-Woche. Wir empfanden das als normal, es war die Aufbauphase der Bundesrepublik. Ich vermute, dass der einzelne Schüler gleichwohl mehr Zeit zur Verfügung hatte als heute, in der Ära zeitvernichtender Computerfixierung. Das frühe Aufstehen wurde durch die tägliche Radiosendung „Frankfurter Wecker“ erleichtert. Bahnfahrt und Aufenthalte wurden zur Lektüre bzw. zum Skat- oder auch Pfennigspiel mit Bierdeckeln genutzt. Da wir alle Aktentaschenträger waren (Rucksäcke hätten wir als würdelos empfunden), konnte gelegentlich auch ein Schachbrett mitgeführt werden. Die Zahl der Fahrschüler auf der Ulmstrecke blieb lange Zeit überschaubar. Jahrelang war ich, neben Mitschülern aus den Familien Broll und Kretzer, der einzige Philippinum-Besucher aus Holzhausen. Aus Beilstein kam Norbert Grün, in Ulm stiegen Manfred Wacket und die Stork-Geschwister zu. Ob Bissenberger wie Karl Heinz Weber zum Ulmtal gerechnet werden wollten oder sollten, blieb unklar. Biskirchen wiederum war für uns eindeutig Lahntal. Mit dem Sonderstatus der „Ulmtalgymnasiasten“ hatte das nichts zu tun.

Ältere Schulkameraden, vor allem die aus Unter- und Oberprima, wurden zunächst mit "Sie" angeredet, alles andere wäre respektlos gewesen. Auch auf den damaligen Universitäten war automatisches Duzen unter den Studenten noch länger verpönt. Heute muss man sich schon mal Anredeformen wie „Eh, Alter, Respekt!“ gefallen lassen, der Respektverletzer fordert Respekt ein.

Die Bahnhöfe der Ulmstrecke waren, ebenso wie Stockhausen, karg ausgestattet. Kioske und Automaten gab es so gut wie gar nicht, geschweige denn Gaststättenbetrieb. Schon von daher waren wir mit uns selber beschäftigt und „Konsumzwang“ existierte weder dem Wort, noch der Sache nach. Das kam mir als Buch- und Lesebegeistertem entgegen. Überhaupt empfand ich die nachmittägliche Rückfahrt mit wenigen Mitreisenden als höchst entspannend, zumal auf der Ulmstrecke keine Lehrer mitfuhren. Sämtliche Verantwortung war an den Lokführer delegiert und die langsame Bergauffahrt durch Feld und Wald signalisierte Eintritt in die Idylle. Wie liebenswert-altertümlich es zugehen konnte, mag folgende Geschichte illustrieren: Eine betagte Bauersfrau (das sprichwörtliche „alte Mütterchen“) will erstmals mit dem „Balkanexpress“ fahren und steht mit Fahrkarte etwas bang auf dem Bahnsteig. Als der Zug einfährt, bemerkt sie, dass sie die einzige Zusteigende ist, geht zum Schaffner und sagt in ihrer (hier wohl nicht ganz korrekt wiedergegebenen) Dorfsprache: ,,Ei, nur weche mir braacht lhr net zu fahre, aisch kann aach morsche nochemool komme“. Dieser Ausspruch wurde um 1953 in Holzhausen ganz ernsthaft kolportiert. Oder steckt darin nur eine zeittypische Wanderanekdote?

Das Ende des Dampflok-Zeitalters ereilte das Ulmtal mit der Einführung des Schienenbusses (wohl Ende der 1950er Jahre). Der war zwar mit umklappbaren Polsterbänken bequemer, aber aus meiner Sicht keineswegs einladender. Abgesehen davon, dass er alsbald böse Buben zum Aufschlitzen der Polster einlud. Man konnte nicht mehr am offenen Fenster oder auf einer Plattform außerhalb der Waggons stehen, um frische Ulmtal-Luft und freie Aussicht zu genießen. Außerdem war kein Rückzug mehr in leere Abteile zum Lesen oder Hausaufgabenmachen möglich. Lange ging deshalb ein Für- und Wider-Disput zwischen „Modernisten“ und Nostalgikern einher.

Da der Schienenbus auch Triebwagen hieß, kamen lose Sprüche auf. Mehrere höchst ansehnliche Mädchen (vor allem eine blonde „Venus“ aus Beilstein) besuchten Schulen in Wetzlar und stürzten den ein oder anderen heimlichen Verehrer in arge Verlegenheit, zumal der „Trieb-Wagen“ aufregende Sitznähe ermöglichte. Traute man sich nach langem Zögern eine solche Schöne zu fragen, ob sie wohl bereit sei, mit zur Tanzstunde oder zu einem ,,Klassenfest“ zu kommen, lautete die hinhaltende Antwort: ,,Da muss ich erst meine Mutter fragen“. Diese Diskretionstaktik ermöglichte ein problemloses Absagen bei größtmöglicher Schonung des Adoranten. Kam eine Zusage, tauchte ein anderes Problem auf: Wie abends oder nachts heimkommen? Der letzte Ulmtalzug ging am frühen Abend und mit der Angebeteten im Hotel übernachten, das ging gar nicht. Ich bin meinem Klassenkameraden Erwin Unkelbach bis heute dankbar, dass er zum Schluss, als Besitzer eines VW-Käfers, Fahrdienste übernommen hat. Zumal die Ulmtal-Mütter darauf bestanden, ihre Töchter „spätestens um Mitternacht“ wohlbehalten in Empfang nehmen zu können.

Erinnerungsbilder an den „Balkanexpress“ sind für mich wie eine moderate Zeitreise durch letztlich beschauliche Jugendjahre im Ulmtal, die nur von wenigen Erschütterungen durchbrochen wurden. Dominierend ist die Erfahrung einer maßvollen Landschaft, welche zwar die Vorstellung eines ruhig-überschaubaren Daseinskontinuums vermittelt, in der aber gleichwohl das Rattern und Pfeifen einer Dampflok ertönte und eine Ahnung von Aufbruch und erst noch zu bewältigender, Lebensreise vermittelte. Als Student und später als Universitätslehrer habe ich mich auch für den „echten“ Balkan von Kroatien über Serbien bis zum/zur Peloponnes interessiert und mit Studenten Exkursionen dorthin unternommen. Dabei habe ich auch vom ,,Westerwald-Balkan“ erzählt. Ob zutreffend oder nicht, der Gedanke, der „Balkanexpress“ des Ulmtals habe in einer Art unbewussten Brückenschlags meine wissenschaftlichen Balkaninteressen beeinflusst, so wie mich auch Wilhelm Heinrich Riehl zu meiner Habilitationsschrift angeregt hat, gefällt mir.

P.S.: Sollte nicht einmal ein Treffen ehemaliger Ulmtal-Fahrschüler arrangiert werden? Vielleicht wohnen ja noch einige in Sichtweite der alten Balkanstrecke... (Falls Kontaktaufnahme erwünscht: bitte nur traditionelle Post- oder Telefonwege benutzen, da ich außerhalb der E-Mail-Welt lebe).