Eine tierische Entbindung

Eine tierische Entbindung stopte den "Balkan-Express".

Gefunden und aufgeschrieben von Heinrich Jung, bearbeitet und veröffentlicht von Joachim Kohl.

Holzhausen in der Weltpresse

Dass in gewissen Abständen unsere Lokalzeitung, die "Wetzlarer Neue Zeitung“ über Ereignisse in unserem Dörfchen berichtet, wird von Jedermann als selbstverständlich hingenommen. Das aber ein  Ereignis von, na sagen wir mal, "beinahe" der gesamten Weltpresse wiedergegeben und kommentiert wird, steht in der Geschichte unserer Gemeinde wohl einmalig da. Zuerst stand der Bericht in der „Frankfurter Abendpost“ Dazu sei gesagt, dass diese Zeitung zur damaligen Zeit dieselben „Funktionen“ erfüllte, die später die Bild-Zeitung übernommen hat. Nacheinander erschien er dann in fast allen deutschen Zeitungen. Ja, sogar aus Amerika wurden Zeitungsausschnitte, die in großer Aufmachung es über diese Riesensensation berichteten, an die Verwandten in Deutschland verschickt.

Die drei Berichte, deren Originale in meinem Besitz sind, möchte ich Ihnen nun zum ergötzlichen Studium vorlegen.

Frankfurter Abendpost 12. Mai 1951: Ziege ging vor Fahrplan; Zug musste Warten. Wetzlar (Eig. Bericht) 

Nicht auf der "schwäb'sche Eisebahne" sondern auf dem Bahnhof Holzhausen (Strecke Stockhausen — Beilstein) passierte es, dass ein Zug so lange warten musste, bis die Ziege des Stationsvorstehers ihre jungen Lämmer bekommen hatte.

Da die Ziege schon alt war, hatte der Stationsvorstand seine liebe Not mit dem Tier. Kurz entschlossen betrat er den gerade eingefahrenen Zug und suchte nach einem Mann, der von Ziegen etwas verstand. Zum Glück fand er auch einen Bauern, mit dem er nach dem Stall zog. Erst als die Lämmer glücklich auf dem Stroh lagen und der Bauer wieder in seinem Abteil saß, zuckelte das Bähnchen weiter.

Gießener Freie Presse vom 15. Mai 1951 Wetzlar (UP)

Weil seine Ziege Lämmer bekam, ließ der Stationsvorsteher des kleinen Bahnhofs Holzhausen auf der Strecke Stockhauser-Beilstein vor einigen Tagen den Zug zu spät abfahren. Der Beamte hatte sich schon seit den frühen Morgenstunden Sorgen darüber gemacht, ob es seiner alten Ziege gelingen würde, ihre Jungen noch vor der Einfahrt des Zugs zur Welt zu bringen. Trotz größter Anstrengungen vermochte er aber nicht, die Ziege zur Geburt zu bewegen. Da kam ihm, als der Zug einlief, ein Gedanke. Er erkundigte sich, ob einer der Fahrgäste etwas von Ziegen verstünde und er hatte Glück!

Während der Zug eine geraume Zeit auf der Station halten blieb, verließ ein Bauer das Abteil und begab sich in den Stall des Stationsvorstehers, um der Ziege zu helfen. Als die Ziege von ihren Lämmern entbunden war, gab der Beamte beruhigt das Zeichen zur Abfahrt des Zuges. Soweit die "Gießener Freie Presse".

Vielleicht hat das in diesem Bericht gebrauchte Wort „entbunden“ zu der Überschrift zu der köstlichen Glosse verholfen, die 3 Tage später in unserer Lokalzeitung erschien.

Wetzlarer Neue Zeitung; Freitag den 18. Mai 1951

Entbindung
Dass die Natur auch im Zeitalter der Atomtechnik gebieterisch ihre Recht fordert, erwies sich an folgender Begebenheit, die sich vor einigen Tagen auf einem kleinem Bahnhof im Westerwald ereignete: Schon seit den frühen Morgenstunden quälte sich der Stationsvorsteher mit seiner "Beamtenkuh" ab, die Mutterfreuden entgegensah. Ob nun die Zeit noch nicht gekommen, oder ob die gynäkologischen Kenntnisse des "Geburtshelfers" zu wünschen übrig ließen. Wie dem auch sei, dass Lämmchen wollte und wollte nicht das Licht der Welt erblicken.

Selbst ständiges Zureden und das persönliche Eingreifen seiner besseren Ehehälfte vermochte den Gang der Dinge nicht zu beschleunigen. Stunde um Stunde verrann, und mit Schrecken gewahrte der Stationsvorsteher, dass in wenigen Minuten der Arbeiterzug auf seinem Bahnhof Eintreffen musste. Konnte er denn seine brave Ziege jetzt im Stich lassen? Das Pflichtgefühl rief ihn jedoch zum Dienst! So ließ er denn den Zug in die Station einfahren und hob schon die Kelle ihn auch wieder abfahren zu lassen, ausgestiegen war nämlich niemand, als ihn in letzter Minute ein Gedanke durchzuckte, der ihn und seiner Ziege vielleicht Hilfe zu bringen vermochte. So ließ er also den "Löffel" wieder sinken und rief, eilig die Wagenreihe entlang laufend, den Fahrgästen zu: "Wer Ziegenverstand hat, möge zu mir in den Stall kommen". Tatsächlich erhob sich, unter verständnisvollem Lächeln der übrigen Passagiere, ein Fahrgast und folgte dem schnell seinem Stall zustrebenden Stationsvorsteher. Der weitere Verlauf der Geschichte ist in wenigen Worten geschildert. Der Mann kam, sah und konnte innerhalb kürzester Zeit die jammernde Ziege von ihrem lebensfrohen Lämmchen und den Herrn Stationsvorsteher von seinen Sorgen entbinden.

Hinzuzufügen bleibt nur noch, dass der Aufenthalt nur kurz war und der Zug fast auf die Minute genau in seinem Bestimmungsort eintraf. Ist es da nicht angebracht, dem Stationsvorsteher und seinem hilfsbereiten Fahrgast, der zwar keinen "Ziegenverstand" hatte offensichtlich aber von Zügen etwas verstand ein Lob auszusprechen?

Wir tun es im Namen unserer Leser!

In Deutschland lachte man, oder besser gesagt, man schmunzelte. Gar mancher Städter mag sich im hastigen Treiben der Großstadt für einen Augenblick nach der Idylle unseres Dörfchens gesehnt haben. 

Wahr ist an der ganzen Geschichte, dass die Ziege zu dem erwähnten Zeitpunkt sich zum Lämmer machen anschickte. Alle anderen "Ereignisse" wurden, zumindest vom Bahnhofsvorsteher, energisch bestritten.

Es hätte aber doch sein können.