Marie Margarete Muck aus Holzhausen überlebte als einzige der Familie die Katastrophe

Am 6. November 1854 strandete das Segelschiff „Johanne“ mit 222 Auswanderern vor Spiekeroog.

Mit 222 Passagieren an Bord geriet das Segelschiff „Johanne“ am 6. November 1854 kurz nach seiner Ausfahrt aus Bremerhaven in schwerste Seenot und strandete vor der Insel Spiekerook. Unter den 70 Todesopfern waren auch Auswanderer aus dem Lahn-Dill-Gebiet. Eine der Überlebenden der Katastrophe war Marie Margarete Muck aus Holzhausen, deren Erinnerungen niedergeschrieben wurden.

Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts herrschten für die Bewohner unserer Heimat ungünstige Erwerbsmöglichkeiten. Die infolge der Missernten von 1846 und 1847 Hunger- und Kummerjahre, die unsere Vorfahren erlebten, auch die inneren Unruhen des tollen Jahres 1848 mit seinen verhängnisvollen Auswirkungen für viele Solmser Landeskinder spielten hier mit und waren für eine große Anzahl besonders wirtschaftlich schwacher Einwohner der Anlass, ein unsicheres Glück in der Fremde einer gewissen Not daheim vorzuziehen.

Not trieb sie aus der Heimat  
Die Auswanderungen aus unserem Gebiet erreichten ein beträchtliches Ausmaß. Der Hauptstrom von solchen Europamüden ergoss sich ins Land der Freiheit und der unbegrenzten Möglichkeiten in die Vereinigten Staaten, wo man leichter zu Verdienst und Brot kommen und sich überhaupt ein erträglicheres und sorgloses Dasein zu verschaffen hoffte.

Auch aus dem Kirchspiel Ulm traten verschiedene Familien im Oktober 1854 die Reise in die Neue Welt an, unter ihnen das Ehepaar Peter Muck und Marie Christine geb. Balser aus Holzhausen mit ihren fünf Kindern Marie Margarete, Peter, Johann Georg, Katharine und Marie Christine im Alter von 7 bis 18 Jahren. Das älteste dieser Kinder, Marie Margarete Muck, geb. 13.2.1836, ging als einzig überlebendes Glied der Familie aus der Schiffskatastrophe hervor.

Von Holzhausen nach Bremerhaven  
Am 12. Oktober 1854 verließ die Familie Muck das Heimatdorf Holzhausen mit dem Ziel Bremerhaven, um sich dort für Nordamerika einzuschiffen. Mit der Bahn gelangte man über Gießen nach Kassel in 6 Stunden, von dort wieder 6 Stunden mit der Postkutsche über Göttingen nach Minden.

In Minden bestiegen die Auswanderer noch einmal die Eisenbahn, um nach Bremen zu gelangen, und von Bremen fuhr man auf der Weser nach Bremerhaven. Da das Segelschiff „Johanne“, das am 15. Oktober 1854 nach Amerika abfahren sollte, noch nicht in See stechen konnte, weil die Schiffsbauten noch nicht vollendet waren, musste sich die Familie noch etwa zwei Wochen im Auswandererhaus aufhalten.

Am 2. November gingen die Auswanderer an Bord. Schon am nächsten Tag brach der Sturm los, der sich täglich steigerte und am 6. seinen Höhepunkt erreichte. Um 12 Uhr mittags war das Schiff noch unversehrt. Da wurde Marie Margarete Muck von einem schweren Brecher erfasst und über Bord gespült und gleich darauf wieder ins Schiff hineingeschleudert.

Während sie sich im Wasser  befand, war das Schiff auseinandergeborsten. Gerade hatte sie noch gehört, wie die zweitjüngste, an der eisernen Bettstelle auf der Kajüte sich festhaltende Schwester Katharine ausrief: „Ach, Mutter, unsere Riemargret!“ da ward sie wieder von einer Welle fortgerissen, glaubte schon an ihr Ende gekommen und rief noch aus: „Vater in deine Hände befehle ich meinen Geist!" Dann verlor sie die Besinnung und kam erst wieder zu sich, als sie von einer neuen Welle wieder ins Schiff hineingeworfen wurde und eine zeitlang dort gelegen hatte, bis der Sturm zu Ende war.

Wunderbare Rettung  
Danach ergriff sie ein Mann, der versuchte, die Hilflose durch öfteres Benetzen ihres Kopfes mit Rum ins Leben zurückzurufen. Zwei Stunden verweilte sie noch im Schiffswrack, bis Leute von der Insel Spiekeroog kamen, ein Seil um sie wanden und sie an Land holten. In einem Wirtshaus wurde die Gerettete untergebracht und von einem Arzt aus Oldenburg betreut.

Auf Martini begrub man ihre Eltern und die vier Geschwister. Später wurde M. M. Muck mit einem Dampfschiff nach Oldenburg, Bremerhaven und Bremen befördert. In Bremerhaven weilte sie im Auswanderer – Krankenhaus. Auf der Heimreise brachte man ihr viele Liebesbeweise entgegen und kurz vor Weihnachten traf sie wieder in Holzhausen ein, nun als Vollwaise und vollständig mittellos, aber war wieder daheim.

Am 13. September 1857 heiratete M. M. Muck im Alter von 21 Jahren den acht Jahre älteren Schneider Johannes Henrich Bellersheim. Neun Kinder wurden dem Paar geschenkt, drei Töchter und sechs Söhne. Nur zwei überlebten die Eltern. Im Spätsommer 1917, wenige Monate nach der diamantenen Hochzeit, passierte ein tragischer Unfall: Marie Margarete Bellersheim glitt beim Wäschereinigen im Ulmbach aus und verletzte sich am Fuß. Die 82jährige wurde bettlägerig und erholte sich nicht mehr. Sie starb am 17. Juli 1918 in Hagen, genau einen Monat nach ihrem Mann.

Der Bericht stammt aus der Feder von Pfarrer Ernst Stuhl aus Ulm und wurde überarbeitet von Günter Daniel, dem Eheman der Urenkelin E. Keul.

Aus Heimat an Lahn und Dill Oktober 1993 Ausgabe 278.